6 Aug 2024 Zwischen der Realität und der Gesichtswahrung: Zwischenbericht des Deutschen Bundestages zum Afghanistan-Einsatz

Thomas Ruttig

Deutschland sei in Afghanistan „strategisch gescheitert“. Das ist das zentrale Ergebnis eines vernichtenden Zwischenberichts, den der Bundestag in Auftrag gegeben hat, um den gesamten deutschen militärischen und zivilen Einsatz in Afghanistan von 2001 bis 2021 unter die Lupe zu nehmen. Deutschland war immer stolz darauf, der zweitgrößte bilaterale Geber und Truppensteller in Afghanistan zu sein, aber der Bericht zeigt, dass diese Fokussierung auf Quantität die Frage nach der Qualität der deutschen Aktivitäten überschattete. Auch wenn sie teilweise mit positiven Worten abgefedert wird, zeigt sie auch, wie die Regierungen zwei Jahrzehnte lang ein unrealistisch rosiges Bild von der Situation in Afghanistan zeichneten, während sie sich gleichzeitig einer unabhängigen öffentlichen Überprüfung widersetzten. Thomas Ruttig von der AAN, der einen Großteil der letzten zwei Jahrzehnte und viele Jahre davor vor Ort in Afghanistan verbracht hat, fasst diesen verheerenden 330-seitigen Zwischenbericht zusammen. Er erläutert die wichtigsten Ergebnisse und hebt ihre Ungereimtheiten – einige davon eher überraschend – und blinde Flecken hervor.

Der Zwischenbericht der Parlamentarischen Enquete-Kommission, die mit der Untersuchung der militärischen und zivilen Aktivitäten des Landes in Afghanistan in den Jahren 2001 bis 2021 beauftragt wurde, ist ein weitreichender Versuch, zwei Jahrzehnte der Augenwischerei der Bundesregierung zu überwinden, die die reale Situation in Afghanistan Lügen strafte und schließlich zum Scheitern führte. Der Bericht ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem strategischen und politischen Rahmen der deutschen Afghanistan-Politik und den Aktivitäten der dort beteiligten Institutionen. Er verweist auf klaffende Lücken in den deutschen Institutionen, die für den Umgang mit internationalen Krisen zuständig sind, einschließlich des Versagens der aufeinanderfolgenden Regierungen, eine kohärente Afghanistan-Strategie zu formulieren (und umzusetzen). Die Autoren des Berichts bemängeln: (a) die Kernministerien als unwillig, miteinander zu spielen, (b) fast die gesamte Regierungsklasse dafür, dass sie dem Parlament und den Wählern Sand in die Augen streut über den (mangelnden) Fortschritt der Mission und (c) für nachteilige Defizite bei der Mobilisierung ausreichender Ressourcen, insbesondere in den frühen, entscheidenden Perioden, und für entscheidende Teile der deutschen Mission (wie z.B. Polizei,  B. Demokratisierung und Unterstützung der afghanischen Zivilgesellschaft).

Während einige der allgemeinen Schlussfolgerungen krass sind, sind sie kaum überraschend. Vieles war lange Zeit von Kritikern geäußert worden – und von denselben politischen Kreisen abgetan worden, die über fast zwei Jahrzehnte hinweg erfolgreich eine umfassende, unabhängige und öffentliche Untersuchung des zunehmend versagenden deutschen Abschneidens in Bezug auf Afghanistan blockiert hatten.

Gleichzeitig versuchen die Autoren des Berichts, ein vernichtendes Urteil zu vermeiden, das Gesicht Deutschlands zumindest teilweise zu wahren und sich Optionen für künftige Auslandseinsätze offen zu halten. Sie besagen:

Auch wenn der Einsatz in Afghanistan im Nachhinein nicht insgesamt ein Erfolg war, so gab es doch Teilerfolge, die zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen beitrugen, bis die Taliban im Sommer 2021 wieder an die Macht kamen … Der deutsche Aufbau der Wirtschaft und der Entwicklungszusammenarbeit hat es nur teilweise geschafft, Strukturen zu schaffen, die das Leben der Bevölkerung nachhaltig verbessert haben, zum Beispiel in den Bereichen der Grundversorgung der Bevölkerung (Zugang zu Wasser, Grundbildung, Gesundheitsversorgung), vor allem im Norden [Afghanistans] und in Kabul.

Dass die Afghanen 20 Jahre lang bessere Lebensgrundlagen, mehr Freiheiten und die Hoffnung hatten, dass Afghanistan nach vier Jahrzehnten Krieg endlich friedlich und stabil wird, ist sachlich richtig. Zumindest für den Autor klingt die Betonung kurzfristiger Erfolge jedoch zynisch angesichts der Umstände, unter denen ein großer Teil der afghanischen Bevölkerung derzeit nach der Rückkehr der Taliban an die Macht gezwungen ist, zu leben: Ihre Lebensgrundlagen brachen zusammen, ohne dass sie auch nur theoretisch mitbestimmen konnten, wie ihr Land gestaltet, und sie wurden von der größten Koalition – militärisch oder anderweitig – seit dem Zweiten Weltkrieg abgehängt.

Der Bericht der Studienkommission versucht daher, einen Weg zwischen Deutschlandkritik und deutscher Gesichtswahrung zu gehen. Es deutet darauf hin, dass Deutschland weiterhin darum ringt, ein völlig realistisches Bild seiner Afghanistan-„Mission“ zu erstellen, und dass die deutsche politische Klasse noch nicht bereit ist, das totale Scheitern ihres Engagements in Afghanistan von 2001 bis 2021 vollständig einzugestehen.

Ob es hier Fortschritte geben wird, wird der Abschlussbericht der Kommission zeigen, der vor den nächsten Parlamentswahlen im Spätsommer oder Herbst 2025 fertiggestellt und dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt werden soll. Es wird niemandem helfen, weder innerhalb noch außerhalb der Regierung, ganz zu schweigen von Afghanistan, wenn der Wunsch, das Image Deutschlands und die deutsche politische Klasse zu schützen, dazu führt, dass Missverständnisse und Fehler weiterhin vertuscht oder verharmlost werden.

Herausgegeben von Jelena Bjelica, Roxanna Shapour und Kate Clark

Sie können den Bericht online in der Vorschau anzeigen und herunterladen, indem Sie auf hier oder über den Download-Button unten.

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Dieser Artikel wurde zuletzt am 5. Aug. 2024 aktualisiert.